Metaphorisch gesprochen: Über die transformative Wirklichkeit der Kunst
Zvi Szir 06.2022
«I danced in the morning / When the world was begun, / And I danced in the moon / And the stars and the sun, / And I came down from heaven / And I danced on the earth, /At Bethlehem / I had my birth. / Dance, then, wherever you may be, / I am the Lord of the Dance, said he…»1
Kunst, wie das Tanzen und die Liebe, ist nutzlos, man kann es nicht gebrauchen ohne es zu verstümmeln. Natürlich kann man die Liebe sich zunutze machen, z. B. um von dem Liebenden etwas zu bekommen, oder seine Meinungen und Handlungen zu kontrollieren, das aber kann nicht vollzogen werden ohne die Liebesbeziehung zu korrumpieren. Es mischt Hässlichkeit in die Schönheit hinein, es wirft einen unangenehmen Schatten. So auch mit der Kunst; wird die Kunst angewendet um anderen zu beeinflussen, sie zu unterrichten, zu informieren, zu zeigen, zu heilen, oder um einem Raum ein Ansehen zu verleihen, zu dekorieren, zu veredeln, dann entsteht eine Tumorartige Geschwür auf dem
Freiheits-Kontinent die die Kunst eröffnet. Dieser wird die Kunst und das Künstlerische unvermeidlich unter die Herrschaft der Bedeutung und des Nützlichen bringen. Wie unser Sterben aber, ist das Ableben der Kunst unvermeidlich. Das Joch, unter dem die Kunst bis zu ihrem unausweichlichen Vergehen geritten wird, nennen wir Kultur.
Kultur ist aber so unvermeidlich und unbedingt notwendig für eine gesunde Wachstum der Künstlerische Arbeit, wie Kompost und das Kompostieren für eine gesunde Erde und Landwirtschaft. Dass die Qualität der Pflege des Komposthaufen einen wesentlichen Beitrag zum Wachstum und Schönheit des Hofes leistet, verbirgt nicht die Tatsache dass der Komposthaufen der Ort ist, in dem das Gewachsene und Geformte zerlegt wird. Hier wird das Spezifische, zum Beispiel eine Stück Obst, wieder in Allgemeine-Erde geführt, um das Verwirklichte wieder in das Mögliche Umzuwandeln. Im Kompost, wie in der Kultur, wird das Singulär-Erreichte in das Formlose-Generelle umgewandelt. Wenn die Gemeinschaft ein Organismus ist, dann ist ihre Kultur die Darm. Der Ort an dem die Schöpfung zerlegt wird, um einverleibt oder geschieden zu werden. Die Schöpfung findet nicht im Darm statt, aber ohne die funktionierende Zerlegung, die uns Kraft und manche Stoffe schöpft, ist das gesunde freie Erschaffen unwahrscheinlich.
Die Künste brauchen die Kultur so wie Kulturen ihre Künste, aber beide sind ihre Wesen nach Gegensätze. Sie fliessen in einander um in ihre Natur überwunden zu werden. Die Kunst zieht aus dem im Kulturschlamm aufgelöste Materielle das Notwendige, um aus der Allgemeinheitsbrei das Einmalige, erneuernde, der wachsende Spitze der Geistige
Entwicklung, zu erschaffen. „Das Erneuende“ aber soll hier nicht mit
„Erneuerung“ verwechselt werden. Ein Musik Stück kann tausend mal gespielt werden und immer neu klingen. Die Kultur bemüht sich das Singuläre einzuverleiben, es Teil der gegebenen Sozialen Ordnung zu machen, so dass es geurteilt, zerlegt und in nützlich und nutzlos sortiert werden kann. Es sozialisiert das Einmalige, verwandelt es in Allgemeingut und führt es in die Routinen der Gesellschftsrituale ein; es kompostiert, verwandelt das Werdende ins Vergangene und stellt es als Grund in den Dienst des Kommenden.
Innerhalb dieser Verdauungsprozesse, in dem das Neue in Altes und das Verbrauchte in Einmaliges umgewandelt werden, gibt es einen „Zeit-Raum“, in dem das Kunstwerk als das, was es ist erlebt werden kann. Es ist in diesem Kulturfreienraum, in dem die Kultur der Boden ist aber nicht bestimmend wirkt, dass die Kunstwerke ihre transformative Realität entfalten können. Eine Realität die nur in ihrer Nutzlosigkeit wirken kann. So wie der andere Mensch nicht um uns zu lieben geschaffen ist, aber es wunderbar ist, wenn Er/Sie es tut, so auch mit den Künsten; Sie sind nicht geschaffen, um uns zu verwandeln, aber es ist eine Gnade wenn sie es tun.
Aus diesen metaphorischen Gesichtspunkten heraus, klärt sich auch die Beziehung zur Kultur: Umarme ich einen geliebten Menschen als Ausdruck meines Liebens, dann benutze ich den Inhalt meines Darms und der Verdauung Tätigkeit, um es zu vollziehen. Was aber die Umarmung und die Liebe nicht unter die Herrschaft der Verdauung stellt. Mein Darm dient meinem Liebesausdruck so wie die Kultur, als Seeleninhalt und Institution, dem Künstlerischen Erlebnis dienen soll: Es liefert die „stoffliche Infrastruktur“, die ermöglichend aber nicht bestimmend wirkt. Verunstalte ich die Künste zu einem Kulturellen Event, also wird Kunst spektakulär, dann ist es so, wie wenn ich die Liebe und ihren Ausdruck auf eine Darmbewegung reduziere. Bemühe ich mich die Kunstwerke als Ausdruck einer Kultur zu begreifen, dann soll ich meine Liebe als Offenbarung des Inhaltes meines Gedärmes denken.
Der Raum, der durch diese Betrachtungen geöffnet wird, ermöglicht mich zu fragen: Was ist die Transformative Realität des Künstlerischen Erlebnisses?
Um mich nicht in Abstraktionen zu verlieren, will ich bei einfacher Selbstbeobachtung beginnen: Jedes massgebende Künstlerische Erlebnis hat mir das Leben verändert; Es hat die Weise, wie ich die Welt erlebe, in Gross oder Klein, verwandelt; Es hat mich dazu gebracht, die Dinge von dem Tag an anders zu sehen; Es hat mich moralisch verändert, mir neue Entscheidungs Möglichkeiten beigebracht, mich freier gemacht. Das stelle ich nicht als Behauptung, sondern als Erfahrung fest. Was ist, was die Erlebnisse an einem Stravinsky
Ballet, einem Gemälde von Matisse oder einem Gedicht von Hilde Domin hervorhebt und den Künsten ihren besonderen Platz in die Welt verschafft?
Es gibt andere Erlebnisse, die mich radikal verändern, manchmal sehr schnell und tief. Sie können traumatisch oder fröhlich sein. Sie treffen mich, persönlich, versichern oder verunsichern meines Daseins, versprechen eine bessere Zukunft oder nehmen mir den Boden unter den Füssen. Wesentlich ist, dass sie in meinem Leben stattfinden, dass sie persönlich sind und bestimmend auf meine Persona wirken, auf „wer und was“ ich in diesem Leben bin. Habe ich die Lotterie gewonnen, oder bin ich von einem Lastwagen überfahren, fand ich meinen besten Freund schon in der ersten Klasse, das alles gehört mir als Person.
Dann gibt es Erfahrungen, die einen gedanklichen, religiösen oder sogar meditativen Charakter haben, die wirken in die Gegenrichtung, so zu sagen „aus dem Innen heraus“. Durch gedankliche Arbeit, Hingabe oder Kontemplation kann mir „ein Licht aufgehen“. Ich kann innere Erlebnisse haben, die nicht unbedingt durch ein äusseres Ereignis in Gang gebracht werden, die meine Stelle in Ganzen, „das was ich tun soll“ verwandeln. So gehen, zum Beispiel, viele Kultur- oder Religion-Stifter*innen durch monumentale innere Krisen, um gestärkt und mit neuen Weltbildern aus ihnen heraus zu kommen. Eine innere Erfahrung, durch lange gedankliche Arbeit oder eine augenblickliche Offenbarung, kann mein Weltbild zertrümmern, so dass eine neues, wie aus den Ruinen hervor geht. Ich ringe mit dem Engel, der aber bin ich. Ich gehe durch mich und wandle das Persönliche während ich mich selbst in klein oder gross überwinde... Ja, manchmal ist es viel schwieriger einen neuen kleinen Gedanken zu akzeptieren, als eine grosse, Welt umwälzende Offenbarung.
Beide Sorten von transformativen Geschehen, die oft in einander verschlungen sind, tragen starke persönliche Züge: „das ist mir geschehen“. Im Mittelpunkt steht immer meine handelnde, denkende Person, „Ich denke - Ich Erlebe - mir ist es geschehen“. Das ist aber, was das Alltägliche und das Kontemplative Geschehen vom nutzlos Künstlerischen und ästhetischen Erlebnis unterscheidet. Die ästhetische-künstlerische Erfahrung ist verankert in einem tiefen Desinteresse des Selbst an sich selbst; in anderen Worten Kunst oder Natur ästhetisch zu erleben, setzt eine Selbstvergessenheit voraus.
Gegen Ende ihres Gedichts „Everything“, nach dem sie Kindheit und Leidensweg Van Gogh‘s durch schwierige Lebensumstände poetisch umreisst, schreibt die Naturdichterin Mary Oliver2:
„and this is what would finish him:
not the gloom, which was only terrible, but those last yellow fields, where clearly
nothing in the world mattered, or ever would, but the insensible light.
(„und das ist, was ihn verenden wird:
nicht das Düstere, das nur schrecklich war,
aber die letzten gelben Felder, wo offensichtlich
nichts auf der Welt von Bedeutung war, oder es jemals sein würde, nur das unempfindliche Licht.“)
„nothing in the world mattered“, „Nichts ... ist von Bedeutung“ nur noch die wunderbar gelbe Weizenfeldersonne, die wir auf dem letzten Bild Van Gogh‘s sehen. Im künstlerischen Erlebnis, ob gegenüber der Natur oder bei einem Kunstwerk, werden Ich und Welt vergessen. Metaphorisch schliessen wir die Augen, wie manche bei einem Kuss, oder beim Musik hören. Wir sind hingegeben, wir halten nicht mehr an uns, wir brauchen uns nicht.
Im künstlerischen Erlebnis ist nichts mehr von Bedeutung, der Eigenwille, der unbedingte Wille des Subjekts zu bestehen, zu überleben, an der Identität zu halten, wird aufgehoben.
„Was es mir sagt“, „Wie es mir geht“ das hat mit dem künstlerischen Ereignis nichts zu tun, das Kunstwerk sagt mir nichts, nicht weil es schweigt, sondern weil das „mir“ gegenüber der Musik, dem Gemälde oder einem Gedicht als völlig überflüssig erscheint. Die Künstler*innen drücken sich nie aus, nicht weil sie nichts zu sagen haben, sondern weil das Subjekt für die künstlerische Arbeit nicht Inhalt sondern nur das Rohstofflager ist. So ist es auch mit der Reflexion und Rezeption des Werkes: Alles, was ich über die Bedeutung, oder die Eigenschaften des Werkes zu sagen habe, tangiert das Erlebnis auf dessen äusseren Umriss, es bedeutet so viel, wie wenn der Satire der Nymphe die botanische Eigenschaften des Grases erklärt, auf dem sie eine Liebesnacht gefeiert haben.
Kategorisch geschieht das Gleiche in der ästhetischen Erfahrung an der Natur oder den Künsten. Mit dem Unterschied, dass ich in der Natur an eine geschaffene und in der Kunst an eine werdende Welt hingegeben bin. Die Schilderung des Unterschieds in der Erfahrung von Kunst und Natur überschreitet den Rahmen dieses Texts, aber die enge Beziehung wird offensichtlich, z.B. in Rudolf Steiner‘s Märchenvortrag „Das Wesen der Künste“.
Zwei Frauengestalten werden Geschildert, die sehr unterschiedliche Beziehung zur Gefrorene Landschaft in dem sie sich befinden vorweisen: „Die eine der Frauen... preßt ihre
Glieder an den Leib; sie hält sich in sich selbst zusammen, und sie spricht die Worte: «Mich friert!» — Die andere der Frauen sendet hin den Blick über die schneebedeckte Fläche, auf die vereisten Wasser, auf die mit Eiszapfen überdeckten Bäume, und von ihren Lippen pressen sich die Worte, in völliger Selbstvergessenheit ihres eigenen Gefühls, in völliger Selbstvergessenheit dessen, was sie selbst durch das äußere Physische der Landschaft an Frost spüren kann: «Wie wunderschön ist die Landschaft rings herum» — Wärme fühlt man in ihr Herz einströmen, denn sie vergißt alles, was sie fühlen könnte durch physischen Frost und physischen Einfluß. Sie ist überweltigt in ihrem Innern ganz von der ungeheueren Schönheit dieser so frostigen Landschaft. Und die Sonne sinkt tiefer hinunter, und die Abendröte entfärbt sich, und die beiden Frauengestalten entschlummern in einen tiefen Schlaf. In einen Schlaf, der ihr schier zum Tode werden könnte, versinkt die eine, die den Frost vorher so sehr im eigenen leiblichen Selbst gespürt hat; und in einen Schlaf versinkt die andere, dem man ansieht, daß die Nachwirkung der Empfindung, die in die Worte gefaßt war: «Ach wie schön!» nachklingt und die Glieder durchwärmt und sie innerlich lebensfrisch erhält im Schlafe noch. Und gehört hat diese letztere Frauengestalt von dem Jüngling, der aus dem Glanz der Abendröte herausgeboren worden ist, gehört hat sie die Worte: «Du bist die Kunst!» 3“
Ja, es ist in die Selbstvergessenheit, nicht in „selbstausdruck“, das Ich Kunst werde, dass ich aus mir heraus trete, das ich mich hingebe. In Kunst ist mein Subjekt, also meine verurteilende Meinungen aufgehoben, mein Eigenwille ist für ein Moment überwunden, auch
wenn beim manche Künstler*innen kehrt sie, einst das werk ist getan, in vollen Wucht zurück. Ich erlebe die Welt nicht wie ich es mir vorstelle,sonder wie es ist. Ich tauche in ein Welt der
„nicht meine Person“ ist. Der eine Wirklichkeit enthält, die sich in die Gnade des entschlüpfen aus der Personlichkeitfesseln Offenbart. Es ist das Wirkliche wie es selber sei, oder in die direktheit der alte Igor Stravinsky: „Musik can express nothing, That’s my conviction, it can express it self only, then music expresses itself, and very elecquantly, expressing it self it creates forms..“ 4
Die Transformative Wirklichkeit der Kunst liegt in der Selbstvergessenheit, im Austauschen der Gesichtspunkte. Die künstlerische-ästhetische Erfahrung vermag uns die Augen zu ersetzen, wir lernen mit den Augen der Welt zu sehen. Langsam, eine Kunsterfahrung nach der anderen, lernen wir, wie die Welt sich hingeben kann, wenn wir uns aufheben. Das ist die musische Gnade, sie wird nie verdient, weil sie immer da ist, wenn wir uns selbst aus dem Weg gehen.
Das ist auch der Grund, warum die Künste für den modernen Schulungsweg die zentrale Rolle übernehmen, die einst die Natur hatte. Darum sind „künstlerische
Naturen“ besonderes geeignet, um das Geistige zu erforschen.5 „Wer niemals solche Stimmung des Hingegebenseins haben kann, der kann nicht zu höheren Erkenntnissen kommen. Denn, was wäre das Gegenteil dieser Stimmung? Es wäre der Eigenwille,
Geltendmachen des Eigenwillens. Das sind überhaupt wie zwei Pole des Seelenlebens: hingegebene Verlorenheit an das, was man anschaut, und eigenwilliges Geltendmachen dessen, was in einem ist. Das sind zwei große Gegensätze. Für wirkliche Erkenntnis, für ein Sich-Durchdringen mit Weisheit ist Eigenwille tötend. Im gewöhnlichen Leben kennt man Eigenwillen nur als Vorurteil, und Vorurteile zerstören immer höhere Einsicht.“6
Die Transformative Realität der Kunst kann nicht benutzt werden, um über die Schwelle zu stürmen. Sie ist nutzlos, und lässt sich nicht erwerben. Ich kann nur ruhig, zugeneigt und pflegend mich annähern, wie wenn man sich mit einem Vogel befreunden will. Es will selbstlos gesucht werden, viele sind eingeladen... Es ist ein Wollen frei von Wollen, ein Schlüssel, der zufällig zwei Tore aufschliesst, die aus entgegengesetzten Richtungen in die Realität hinein führen.
Sydney Carter (1915-2004) der das Lied „Lord of the Dance“ Geschrieben hat und es mit einem traditionellen Shaker Coral verbunden, um eine der erfolgreichsten, religiösen Lieder des 20. Jahrhuderts zu erschaffen, notierte: “I see Christ as the incarnation of the piper who is calling us. He dances that shape and pattern which is at the heart of our reality. By Christ I mean not only Jesus; in other times and places, other planets, there may be other Lords of the Dance. But Jesus is the one I know of first and best. I sing of the dancing pattern in the life and words of Jesus.” Dieser dionysische Zugang zur „shape and pattern“ am Herzen der Realität steht im Zentrum des folgenden Artikels und es ist in diesem Sinn, dass der Text allen tanzenden Götter*innen und ihren Jünger*innen gewidmet ist.
Sydney Carter, zitiert in "History of Hymns: "Lord of the Dance" BY C. MICHAEL HAWN, https://www.umcdiscipleship.org/resources/history-of-hymns-lord-of-the-danceMary Oliver, in „Everything“ „ Aus der Gedichtband „House Of Light, Beacon Press, Boston 1990
Rudolf Steiner GA 271 Das Wesen der Künste Berlin, 28. Oktober 1909
From "Stravinsky: once at the Border" Dokumentarfilm 1982, Regie: Tony Palmer
Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1909 GA10
Rudolf Steiner GA 132 Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen, Berlin, 7. November 1911